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Durch alle Dinge geht ein Riss. Genau dort scheint das Licht hindurch. Pastor Thiesen im Interview

Erik Thiesen war 25 Jahre Pastor in der Kirchengemeinde Niendorf. Er ist Ehemann und Vater von drei Kindern. Wie er mit seiner Krebsdiagnose umgeht, verrät er uns in folgendem Interview…

Wir würden gerne mehr über Dich erfahren. Erzähl uns bitte ein wenig von Dir und Deinem bisherigen Werdegang.

Ich bin im Nordosten Schleswig-Holsteins auf einem Hof groß geworden. Meine Familie war sehr christlich geprägt; man versuchte die Bibel möglichst wörtlich auszulegen und aus ihr die Leitlinien für das Leben zu entnehmen. Im Theologiestudium habe ich mich mit dieser Art zu glauben sehr kritisch auseinandergesetzt. Ich entdeckte, dass es sich ohne Gott auch leben lässt.

Aber nicht so gut. Es war wie im Film „Life of Pi –Schiffbruch mit Tiger“. Ohne Gott fühlte sich das Leben wie ein Schwarzweiß-Film an. Mit Gott ist es bunter, fantastischer. Diese Welt versuchte ich in meinem Leben als Pastor immer mehr zu entdecken – und bin immer noch auf dem Weg.

Ich bin verheiratet und habe drei erwachsene Kinder. 25 Jahre war ich Pastor in der Kirchengemeinde Niendorf, einem Stadtteil im Norden von Hamburg. Dann bekam ich Krebs. Nach der ersten OP hofften wir noch, dass es überstanden wäre. Dann aber wurden Metastasten entdeckt. In den letzten 14 Monaten wurde ich mehrmals operiert und bestrahlt.

Seit etwa einem halben Jahr arbeite ich mit besonderem Auftrag als Pastor im Stadtteil, soweit es die Krankheit zulässt.

Wie gehst Du und wie bist Du mit der Diagnose Krebs umgegangen?

Von Anfang an war mir klar: Krebs habe ich nicht alleine. Meine Frau ist genauso betroffen wie ich. Was wir auch tun, wir tun es gemeinsam.

Als Pastor stehe ich auch in der Öffentlichkeit. Und so beschlossen wir von Anfang an, mit „unserer“ Krankheit offen umzugehen. Wir schrieben Rundmails und Rundbriefe an Familie, Freunde und Gemeinde und schilderten unsere Lage. Und es war überwältigend: Ganz viele Menschen standen uns zur Seite, waren für uns da, dachten an uns, beteten für uns.

Wir versuchen zu erzählen, wie es uns geht. Aber das ist nicht einfach. Das Leben fühlt sich plötzlich fremd an, viel unsicherer als vorher. Es ist wie in einem fremden, unbekannten Land. Wir nennen es das „Tumorland“. Erst langsam finden wir uns darin zurecht. Und sind immer noch auf dem Weg.

Wir müssen uns neu sortieren, mit unseren Gefühlen, Lebenszielen, Wertvorstellungen. Der Körper ist nicht mehr der verlässliche Partner von früher.

Wir holten uns Hilfe: Psychologinnen, Seelsorger, Freundinnen und Freunde. Und wir bekamen sie, auch von unserer Arbeitgeberin, der Kirche. Unsere jeweiligen Chefs haben uns vorbehaltlos unterstützt. Das ist durchaus nicht selbstverständlich.

Dann entdeckten wir die Möglichkeit, einen Blog zu schreiben. Unter „gebrocheneslicht.com“ können wir unsere Gedanken verarbeiten und geben sie weiter. Wir haben Kontakt zu vielen Menschen, und immer wieder kommen neue dazu. Der Blog ist uns wichtig geworden.

Was können Familie und Freunde tun, um Betroffene zu unterstützen? Was hat Dir geholfen?

Uns hat es geholfen, wenn sie einfach da waren. Und ehrlich waren. Wir brauchen keine Floskeln. Dann lieber einfach schweigen. Zuhören ist immer gut. In den Arm nehmen, wenn’s passt.

Sind durch Deine Diagnose manchmal Zweifel aufgekommen? Eventuell auch Zweifel an Deinem Glauben? Wenn ja, wie gehst Du mit diesen Zweifeln um?

Die Zweifel laufen mit meinem Glauben immer schon mit. Dass Gott ist, ist für mich durchaus nicht selbstverständlich. Und mein Bild von „ihm“ verändert sich. „Den lieben Gott gibt es nicht“, habe ich in meinem Blog geschrieben.

Denn ich glaube, dass Gott für das Gute in der Welt ebenso verantwortlich ist wie für das Übel. Gott ist „das Leben“. Es hat mich ganz schön durchgeschüttelt, stellt mir immer wieder neue Aufgaben, gibt mir aber auch unendlich viel Schönes. Und dann ist Gott auch wieder mehr als das Leben, größer und bedeutender. Vieles von dem, was wir erlebt haben hat sich angefühlt, als ob Gott seine Hand im Spiel gehabt hätte.

Und ich rede mit ihm. Ich frage, was das Ganze soll. Ich fordere ihn auf, dass er mir hilft. Und dann bin ich wieder dankbar für all das, was ich auch an Schönem erlebe. Ob er mir antwortet, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Manchmal höre ich gar nichts, dann wieder meine ich etwas wahrzunehmen.

Ich verstehe Jesus so, dass er mir sagt: Sieh auf das Gute. Sorge dich nicht unnötig. Und dreh dich nicht immer um dich selbst. Das hilft mir schon mal sehr.

Was ist Dein persönlicher Sinn des Lebens?

Den eigenen Weg zu suchen und dann, wenn man ihn vor sich sieht, mutig zu gehen. Religiös gesprochen heißt das auch: Den Weg zu gehen, den Gott für mich gedacht hat. Und dazu gehört vor allem: Das Schöne im Leben genießen und für andere da zu sein.

Auf Deinem Blog schreibst Du „Durch alle Dinge geht ein Riss. Genau dort scheint das Licht hindurch“. Kannst Du uns Diese Idee näher erläutern?

Das ist ein Vers aus Leonard Cohens Anthem: “There is a crack in everything. That’s where the light gets in.” Er ist für mich Erfahrung und Hoffnung zugleich: Durch den Krebs haben wir unendlich schöne Erfahrungen gemacht. Wir haben eine Nähe zu Menschen, die wir vorher nicht hatten. Wir wurden unterstützt, haben eine tolle neue Wohnung, und in unserer Ehe und Familie sind wir uns womöglich noch näher gekommen. Durch den Riss kam viel Licht.

Und wenn ich mal nur den Riss sehe, dann hoffe ich auf das Licht, das dort durchscheinen soll. Und ist das nicht auch die Botschaft der Bibel: Als Jesus am Kreuz starb, öffnete sich der Himmel, symbolisch gesprochen.

Außerdem ist mir folgende Beschreibung auf Deinem Blog aufgefallen: „Unsere Vorerwartungen bestimmen entscheidend, was wir erleben und zu sehen bekommen. Sie werden zu selbsterfüllenden Prophezeiungen. Das gilt nicht nur für soziale Realitäten, sondern auch für biologische und physikalische Realitäten.“ Inwiefern beeinflussen Überzeugungen die Wirklichkeit?

Ja, das verstehe ich selbst noch nicht so ganz. Wir wollten von Anfang an wissen, was wir selbst zur Heilung beitragen können. Und man sagte uns: Was wirklich und nachweislich hilft, sind Bewegung und eine positive Einstellung. Vom Placebo-Effekt wusste ich schon lange. Jetzt aber habe ich auch gehört und gelesen, dass innere Bilder und Vorstellungen das Gehirn und sogar Körperzellen verändern können.

Deshalb versuchen wir regelmäßig spazieren zu gehen, machen Qigong-Übungen, sprechen über unsere Wünsche und Ziele, wir beten und praktizieren noch stärker als früher christliche Rituale. In der Bibel heißt es ja auch: „Der Glaube versetzt Berge.“ Da scheint etwas dran zu sein.

Glaubst Du an Schicksal?

Ich glaube nicht, dass das Leben vorherbestimmt ist. Ich glaube aber daran, dass es für jede, für jeden von uns einen ganz persönlichen Weg gibt. Und dass es im Leben darauf ankommt, diesen Weg zu gehen, egal ob er leicht oder schwer ist. Es ist auch nicht leicht, diesen Weg zu finden. Für mich ist es eine spirituelle Übung, immer wieder danach zu fragen – in Gesprächen, durch Meditation und Gebet, auch durch Lesen und Lernen.

Hast Du Angst vor dem Tod? Was kommt Deiner Meinung nach danach?

Tatsächlich habe ich mich im letzten Jahr dem Tod so nahe gefühlt wie noch nie in meinem Leben – obwohl ich ja als Pastor auch vorher schon viel damit zu tun hatte. Und ich hatte keine Angst. Aber ich hatte auch keine Vorstellungen oder Bilder von dem, was danach kommt. Vielleicht wartet ja das Paradies auf mich oder eine neue Aufgabe. Ich weiß es nicht und finde es momentan auch nicht wichtig.

Trotzdem will ich nicht sterben. Ich will mit meiner Frau zusammen bleiben, mit den Kindern und all den Menschen, die mir hier so wichtig sind. Und außerdem habe ich mir noch einiges vorgenommen, das ich gerne umsetzen und weitergeben möchte.

Trotz all der dunklen Erfahrungen der letzten Jahre – ich lebe gerne. Christoph Schlingensief hat seinem Buch den Titel gegeben: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein.“ Das glaube ich auch, bis zum Beweis des Gegenteils.

Was würdest Du uns und unseren Leser/innen noch gerne mit auf den Weg geben?

Es hat uns viel geholfen, offen mit der Krankheit umzugehen. Die Menschen um uns herum waren offener, hilfreicher, gelassener als wir erwartet hatten. Sie haben uns einfach gut getan.

Es hat uns geholfen, den Ärzten zu vertrauen. Wir haben auch allen Grund dazu, sie haben Tolles geleistet. Und wir sind sicher, sie werden das auch in Zukunft tun.

Es hat uns auch geholfen, Hilfe zu suchen und anzunehmen: Psychologinnen, Seelsorger, Freundinnen und Freunde.

Und es hat uns geholfen, nicht nur auf uns selbst zu schauen, sondern soweit möglich das Leben zu genießen, zu arbeiten und auf andere zu achten. Wenn man selbst Krebs hat, outen sich Menschen mit dieser Krankheit, von denen man es nicht erwartet hätte. Wir sind nicht die einzigen.

Eine Psychologin mahnt uns immer wieder, den Krebs nicht in den Mittelpunkt zu stellen, ja ihm den Finger zu zeigen. Und das positive Ziel immer im Auge behalten. Für uns ist es: Nächstes Jahr fahren wir die Route 66.

  • Friedrich Müller

    Posté le 12 Oktober 2017

    Offen, ehrlich, authentisch Eric! – Und was du da im Interview sagst, tut auch mir gut. Wir sind als Christen ebensolche Menschen wie alle anderen auch, mit mancherlei Einschränkungen, unglaublichen Möglichkeiten und doch auch endlich. Danke für den Hinweis auf den Riss, der durch alle Dinge geht- und Licht durchlässt, Hoffnung, für heute und morgen!

  • Michael Krause

    Posté le 7 April 2019

    Hallo. Ich bin Michael, ein Freund von Erik. Ich habe dieses wunderbare Interview oft gelesen. Leider ist Erik gestern friedlich und ohne Schmerzen eingeschlafen.

  • Kira

    Posté le 8 April 2019

    Lieber Michael,
    das ist eine sehr traurige Nachricht. Wir wünschen Dir und der ganzen Familie von Erik in dieser schweren Zeit viel Kraft. Auf dass Euch seine hinterlassenen Spuren von Liebe, Halt und Zuversicht geben!

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